Von Martin Zimmermann.
Virtuell durchs zukünftige Wohnquartier flanieren, statt Baupläne studieren: Augmented Reality macht’s möglich. Ein interdisziplinäres Forschungsteam der HSLU lotet gemeinsam mit Schweizer Kommunen und Unternehmen das ortsplanerische Potenzial der Technologie aus. Im Video oben seht Ihr das Beispiel der Bündner Gemeinde Disentis, die einen neuen Dorfkern plant. Die Planungsfirma Metron AG hat im Auftrag der Gemeinde anhand von 2D-Plänen und Skizzen erste Vorschläge entwickelt, wie ein neues Zentrum aussehen könnte. Unser Forschungsteam hat diese Vorschläge in eine räumliche AR-Umgebung übertragen und sie Ende April 2022 in einem ersten Workshop in Disentis vorgestellt.
Grosse Bauvorhaben haben es in der Schweiz mitunter schwer: Hier scheitert das geplante neue Fussballstadion an der Urne; da verzögert eine Einsprache die vom Souverän abgenickte Überbauung. Nun wäre es einfach, auf Vertreterinnen von Partikularinteressen und Nein-Sager zu schimpfen. Doch Designforscher Tobias Matter von der Hochschule Luzern weiss, dass es nicht so simpel ist: «Meistens bremsen die Leute ein Projekt nicht aus Böswilligkeit, sondern weil sie sich schlecht informiert und mit ihren Anliegen nicht ernst genommen fühlen.»
Dabei kommt es zum sogenannten Beteiligungsparadoxon: In der Planungsphase, zu Beginn eines Bauprojekts, hätte die Anwohnerschaft eigentlich den grössten Spielraum, Einfluss zu nehmen. Gleichzeitig sei da aber der Abstraktionsgrad meistens noch zu hoch, erläutert Matter. «Wie sieht die geplante Lärmschutzmauer genau aus? Wie viel Grünfläche fällt der neuen Turnhalle zum Opfer? Laien fällt es oft schwer, sich anhand von technischen Plänen vorzustellen, wie Bauprojekte in der Realität aussehen werden. Eine Einsprache scheint dann der einzige Weg für eine Einflussnahme.»
Forschende rücken dem Paradox zu Leibe
Design- und Informatik-Forschende der HSLU arbeiten derzeit unter Tobias Matters Projektleitung daran, das Beteiligungsparadoxon aufzulösen. Das Mittel der Wahl: Augmented Reality (AR). Die Technologie erlaubt es, reale Gegenstände und Umgebungen um digitale Inhalte zu ergänzen und diese auf Tablets und Smartphones zu projizieren. «Solche Visualisierungen machen Abstraktes nachvollziehbar, weil sie Betrachterinnen und Betrachtern das Gefühl vermitteln, die digitalen Objekte wirklich vor sich zu sehen», erläutert Matter.
Damit sei AR bestens dazu geeignet, die Bevölkerung nicht nur transparenter über anstehende Bauprojekte zu informieren, sondern sie bereits von Beginn an zur Mitwirkung zu motivieren – dies insbesondere Bevölkerungsgruppen wie Jugendliche, die sich wenig von den bisherigen Beteiligungsprozessen angesprochen fühlten. Je aktiver Betroffene in die Planung involviert sind, so der Gedanke, desto breiter ist ein Projekt abgestützt und desto unwahrscheinlicher wird ein Scheitern an der Urne oder aufgrund von Einsprachen.
Mal eben den Baum verpflanzen
Folgendes Beispiel zeigt auf, wie die AR-Technologie bei der Raumplanung zum Einsatz kommen kann: Eine Gemeinde möchte beim Bahnhof eine neue Velostation errichten und plant einen Informationsanlass für die Bevölkerung vor Ort. Die HSLU gestaltet zu diesem Zweck die Velostation als 3D-Modell für eine AR-Umgebung. Am Infoanlass erhalten die Teilnehmenden Tablets mit der AR-Anwendung ausgehändigt. Auf dem Display erscheint via Kamerafunktion die reale Umgebung, die mit der 3D-Visualisierung der geplanten Velostation überlagert wird. Die Teilnehmenden können sich frei um das digitale Modell bewegen und es aus verschiedenen Perspektiven betrachten, so als wäre es wirklich da.
«Je nach Phase des Projekts kann es sich bei einem Modell für Augmented Reality um eine simple Skizze oder um eine detaillierte Darstellung des geplanten Bauwerks handeln», sagt Tobias Matter. Neben der Form würde dann auch ein Eindruck der Farbe und der verwendeten Materialien geliefert. So könnte die AR-Anwendung verschiedene Bauvarianten der Velostation zeigen. Sogar interaktive Elemente sind möglich, etwa digitale Bäume und Sitzgelegenheiten, die sich verschieben lassen oder deren Form man verändern kann.
Die Forschenden der HSLU arbeiten derzeit mit mehreren Schweizer Städten, Gemeinden und Planungsbüros daran, ihre Raumplanung mithilfe von AR zu revolutionieren:
Disentis: ein neuer Dorfkern
Die Bündner Gemeinde Disentis möchte ihren Dorfkern erneuern. Dieser wird heute von einer für den regionalen Autoverkehr wichtigen Strasse durchschnitten. Die Planungsfirma Metron AG hat im Auftrag der Gemeinde anhand von 2D-Plänen und Skizzen erste Vorschläge entwickelt, wie ein neues Zentrum aussehen könnte, das sowohl den Bedürfnissen von Fussgängerinnen und Fussgängern als auch jenen des motorisierten Individualverkehrs gerecht werden kann. Das HSLU-Forschungsteam hat diese Vorschläge in eine AR-Umgebung übertragen und sie Ende April 2022 in einem ersten Workshop in Disentis vorgestellt. «Das Projekt befindet sich noch in einer sehr frühen Phase; vieles ist noch unscharf und darf visionär bleiben», sagt Projektmitarbeiter und Informatik-Forscher Dario Lanfranconi. «Daher haben wir drei verschiedene AR-Visualisierungen gestaltet.» Eine Schwarz-Weiss-Darstellung zeigt skizzenhaft die möglichen künftigen Bauvolumen auf, derweil eine zweite Fassung mit texturierten Bauwerken ins Detail geht. Eine dritte Variante stellt schliesslich mit farbigen Linien den Fluss des Auto- und Fussverkehrs dar.
Glarus: Hier spielt die Musik
Das Kartoni-Quartier ist ein Entwicklungsschwerpunkt der Stadt Glarus. In den nächsten Jahren soll auf dem ehemaligen Industrieareal ein neues Quartier mit Wohn- und Gewerbeflächen entstehen. Forschende der HSLU arbeiten derzeit mit der Gemeinde an der Planung einer neuen Musikschule am Rande des Quartiers, die auch als Kulturzentrum fungieren soll. Das AR-Team unterstützt die Planerinnen und Planer der Immobilienfirma Sutter Projects bei der Gestaltung des Kartoni Parks, der das östliche Tor zum Quartier bildet. In einem Workshop im Mai 2022 brachten Anwohnerinnen und Anwohner ihre Gestaltungsideen ein; vom Pavillon bis zum Mehrgenerationen-Spielplatz. Die Design- und Informatik-Forschenden setzen die dabei entstandenen Skizzen und Kartonmodelle bis zum nächsten Workshop Ende Juni als AR-Umgebung um. «Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer erhalten so ein gutes Bild davon, wie ihre Ideen im Raum wirken und ob sie funktionieren würden oder nicht», sagt Dario Lanfranconi. Die Teilnehmenden sollen ihr Feedback zudem direkt in die AR-Umgebung einfügen können.
Unterägeri: digitale Zwillinge
Ein Projekt in Unterägeri ZG möchte den Ortskern mit diversen Wohn- und Gewerbegebäuden sowie öffentlichen Plätzen aufwerten. Das Start-up Nomoko hat im Rahmen der Planungsarbeiten ein photogrammetrisches 3D-Modell des Dorfzentrums erstellt. Als Basis dafür dienen hochauflösende Fotos, die Nomoko mit einer Kameradrohne anfertigte. Kombiniert man das Modell mit Informationen zur Lärmbelastung oder Immobilienpreisen im Quartier, entsteht daraus ein sogenannter digitaler Zwilling. Das HSLU-Team lotet aus, wie sich solche digitalen Zwillinge mit AR verknüpfen lassen. Ziel ist, die komplexen Informationen aus dem digitalen Zwilling laienverständlich in AR zu visualisieren. Betrachterinnen und Betrachter sollen in dieser AR-Umgebung sogar eigene Gebäude modular «bauen», um so eigenständig unterschiedliche Varianten eines Bauprojekts gestalten und diskutieren zu können. Zu Testzwecken hat Nomoko kürzlich einen digitalen Zwilling des Hochschulstandorts 745 Viscosistadt in Luzern-Emmenbrücke erstellt. Dieses 3D-Modell kommt nun auch in der Lehre zum Einsatz.
Autor: Martin Zimmermann
Bilder: HSLU (AR-Umgebungen), Nomoko AG (Digitaler Zwilling Unterägeri), Gemeinde Glarus (Visualisierung Kartoni-Areal)
Veröffentlicht: 31. Mai 2022
Quelle: Hochschule Luzern HSLU
https://news.hslu.ch/