Von Dr. Sablone und Dr. Brodbeck
Eine überzeugende Vision muss individuell für jedes Unternehmen entwickelt werden und sollte in der Kommunikation frei von Plattitüden sein. Der Artikel beleuchtet die grundlegenden Kernideen, die bei der Entwicklung einer Vision berücksichtigt werden sollten.
Die Idee, dass Organisationen, Unternehmen und sogar ganze Länder eine Zukunftsvision benötigen, die ihre Entwicklung weit über das Tagesgeschäft hinaus leitet, erfreute sich in den 1980er Jahren großer Beliebtheit. Es gab berühmte Gegner wie den ehemaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt – sein Zitat ist unvergesslich: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“ – und unglückselige Befürworter wie Edzard Reuter, der als Vorstandsvorsitzender die damalige Daimler-Benz AG durch Diversifizierung zu einem „integrierten Technologiekonzern“ entwickeln wollte.
Visionen als Werkzeug
Dennoch konnten sich Visionen etablieren und zu einem festen Bestandteil der Geschäftsinstrumente werden. Was ursprünglich von einzelnen brillanten Köpfen oder unerschrockenen Visionären hervorgebracht wurde – man denke an Henry Ford, Estée Lauder, Steve Jobs und Elon Musk in der Wirtschaft oder Mahatma Gandhi und Martin Luther King in der Politik – wird heute von jeder Organisation erwartet. Geschäftsführer von KMU stehen daher vor der Herausforderung, eine Aussage zur langfristigen Zukunft des Unternehmens zu treffen und zu entscheiden, ob ein solches Vorhaben für sie geeignet ist oder nicht. Wie gehen sie dabei am besten vor?
Vier Kernideen
Im Folgenden konzentrieren wir uns auf vier Kernideen, die bei der Entwicklung einer Vision berücksichtigt werden sollten.
1. Die Gefahr austauschbarer Plattitüden
Im ursprünglichen Sinne hat Vision mit Vorstellungskraft, Schöpferkraft und intuitivem Denken zu tun. Die Entwicklung einer kreativen Idee für eine Vision „auf Knopfdruck“ ist jedoch äußerst anspruchsvoll, weshalb die Versuchung groß ist, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen. Dies äußert sich typischerweise in drei Formen:
Setzen Sie auf bewährte „Klassiker“: Aussagen wie „Marktführer in ausgewählten Segmenten“ oder „Die Nummer eins oder zwei der Branche“ klingen gut. Schließlich waren solche führerschaftsorientierten Visionen auch für namhafte Unternehmen wegweisend. General Electric wurde unter der Führung des charismatischen Jack Welch damit berühmt, aber auch Walmart und Heinz folgten dieser Strategie.
Problematisch wird es, wenn hinter der Aussage keine ernsthafte Absicht steckt. Wer sich lediglich ein weit entferntes Ziel setzt, das den Alltag nicht allzu sehr beeinträchtigt, für den kann die vermeintliche Zieldauer schnell zur Ausrede werden, es nicht zu erreichen. Sobald dies im Unternehmen deutlich wird, macht sich Zynismus breit – der Todfeind jeglicher intrinsischer Motivation.
Das Offensichtliche lässt sich klar formulieren: Wenn eine Bank verkündet, sie „befriedige die finanziellen Bedürfnisse ihrer Kunden innovativ und nachhaltig“ oder wolle „das vielversprechende Zentrum für Finanztransaktionen“ sein, formuliert sie ihre Vision ganz selbstverständlich aus Kundensicht. Was hätte sie denn sonst tun sollen? Ihr Angebot rückständig und kurzlebig gestalten? Oder welche anderen Kundenbedürfnisse sollte sie neben den finanziellen erfüllen? Es ist schließlich nur eine Bank! Dasselbe gilt für zahlreiche Organisationen, wie den Chemiekonzern BASF, der erklärt: „Wir sind ‚Das Chemieunternehmen‘ und sind in allen wichtigen Märkten erfolgreich tätig“, oder Pharmaunternehmen, die versprechen, die Lebensqualität von Patienten zu verbessern: Sie alle sprechen grundlegende Bedürfnisse an, die wir als Kunden einfach erwarten und deren Nichterfüllung uns allenfalls enttäuschen würde.
Die Aufgabe, ein Leitbild zu entwickeln, ist damit abgeschlossen, doch ihre Wirkung bleibt bescheiden: Diese Formulierungen erzeugen keinerlei Glanz – weder bei den Kunden noch bei den eigenen Mitarbeitern des Unternehmens.
Lobenswerte Absichten zu formulieren: Visionen wie „Der beste Service – für Kunden, Händler und Mitarbeiter“ (Rewe) drücken zwar gute Absichten aus, bieten aber wenig Orientierung für das Tagesgeschäft des Unternehmens. Solche Aussagen können dennoch relevant und sinnvoll sein, wenn sie einen klaren Wandel in der grundlegenden Ausrichtung des Unternehmens einleiten, beispielsweise weg von der reinen Gewinnmaximierung für die Aktionäre hin zu einer umfassenden Stakeholder-Orientierung.
2. Der fehlgeleitete Drang nach breiter Beteiligung
Allen Visionen liegt die Absicht zugrunde, die Stärken möglichst vieler Mitarbeitender – idealerweise aller – zu bündeln, um die nötige Energie für das Erreichen eines besonders anspruchsvollen Ziels freizusetzen. Wie lässt sich ein solcher Sog erzeugen? Ein Ansatz der Organisationsentwicklung plädiert für eine basisdemokratische Erarbeitung der Vision. Dieser Ansatz basiert auf der Annahme, dass „Eigenverantwortung“ auch ein entsprechendes „Engagement“ erzeugt.
Die Konsensfindung in Gruppen gestaltet sich jedoch schwierig – und die Schwierigkeit steigt mit zunehmender Teilnehmerzahl überproportional an. Das Vorwissen, die Kompetenzen, die Fähigkeiten, die Interessen und die Denkweisen der Beteiligten sind zu unterschiedlich. Hinzu kommen unterschiedliche Persönlichkeitsstärken und der unvermeidliche Einfluss bestehender Machtungleichgewichte. Die Aufgabenstellung wird oft so offen formuliert, dass manche (zu) stark an der aktuellen Realität orientiert sind, während andere die Ausgangssituation völlig ignorieren und sich so schnell in utopischen Vorstellungen wiederfinden. Das Risiko, keinen Konsens zu erzielen, steigt.
Um sicherzustellen, dass am Ende dieser Übungen, die üblicherweise unter Zeitdruck stattfinden, noch ein Ergebnis vorliegt, können zwei unterschiedliche Verhaltensmuster beobachtet werden:
Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner: Die Gruppe einigt sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Folge: Die daraus resultierende Vision besitzt viel zu wenig Charisma: Sie „stört“ zwar nicht, motiviert aber auch niemanden. Gunter Dueck beschreibt dieses Phänomen sehr eindrucksvoll in seinem Bestseller „Schwarmdumm“.
Durchsetzung einer Minderheit: Eine Person oder eine Untergruppe setzt sich gegen den Widerstand der anderen Teilnehmer durch, wodurch der gut gemeinte demokratische Basisprozess genau den gegenteiligen Effekt hat: Die Vision wird von den „Verlierern“ nicht akzeptiert und im schlimmsten Fall sogar torpediert.
3. Vier Merkmale einer Vision mit Biss
Was zeichnet eine Vision aus, die weit mehr wert ist als das Papier, auf dem sie geschrieben steht? Wir unterscheiden vier Kerneigenschaften:
Die Vision ist zukunftsweisend, relevant und aussagekräftig. Sie soll Mitarbeitern und externen Partnern gleichermaßen kurz und prägnant die angestrebte Entwicklungsrichtung des Unternehmens vermitteln. Die zu beantwortende Frage lautet „Warum?“, nicht „Was?“ und „Wie?“.
Die Vision unterstützt Entscheidungen und leitet das Handeln. Immer wenn mehrere Handlungsoptionen bestehen oder Entwicklungspotenzial vorhanden ist, sollte die Vision die Entscheidungsfindung deutlich erleichtern. Dies gilt sowohl für strategische Entscheidungen (z. B. bei der Definition von Schwerpunkten im Innovationsprozess) als auch für das alltägliche Verhalten der Mitarbeitenden. Die Vision von Starbucks lautet: „Wir sind der dritte Ort zwischen Arbeit und Zuhause.“ Es wird schnell klar, warum die Restaurants mit Sofas ausgestattet sind und warum wir stundenlang, nachdem wir unseren ersten Espresso bestellt haben, beim Arbeiten am Laptop in Ruhe gelassen werden.
Die Vision ist motivierend. Bei jeder Vision stellt sich die Frage, warum es sich lohnt, sie zu verwirklichen, was sich ändert, wenn wir als Organisation gemeinsam an ihrer Umsetzung arbeiten. Dies erfordert, dass der Zielzustand nicht nur objektiv formuliert, sondern gleichzeitig auch emotional aufgeladen wird. Die gesetzliche Unfallversicherung in Deutschland liefert hierfür ein gutes Beispiel: „Unsere Vision Zero: Eine Welt, in der Arbeit sicher und gesund ist. Eine Welt ohne tödliche und schwere Arbeitsunfälle.“
Die Vision lässt sich leicht vermitteln. Eine Vision ist gut formuliert, wenn sie den „Großmuttertest“ besteht: Sie muss in 30 Sekunden erklärt und verstanden werden können. Sonova liefert ein gutes Beispiel: „Unsere Vision ist einfach: eine Welt, in der es für jeden Hörverlust eine Lösung gibt und in der jeder Mensch gleichermaßen die Freude am Hören erleben kann.“
4. Gemeinsame Entwicklung versus gemeinsame Implementierung
Der Wunsch nach Veränderung, nach der Verwirklichung eines noch nie dagewesenen Vorhabens, geht meist von wenigen, oft sogar Einzelpersonen aus. Die erfolgreiche Umsetzung einer Vision hingegen erfordert, dass möglichst viele Mitglieder der Organisation dafür Verantwortung übernehmen. Zwei Faktoren dämpfen die Begeisterung für kreative Ideen: erstens die Anziehungskraft der Vision selbst, die den Wunsch nach ihrer Umsetzung weckt, und zweitens das Charisma derjenigen, die die Vision verkörpern und zu Vorbildern für viele werden.
Vorbild zu sein ist eine Verpflichtung: Führungskräfte können es sich nicht leisten, Entscheidungen zu treffen und Maßnahmen zu ergreifen, die der Vision widersprechen – andernfalls würden sie ihre Glaubwürdigkeit verlieren, was wiederum bedeuten würde, dass die Verpflichtung der Mitarbeiter, die Vision umzusetzen, hinfällig würde.
Andererseits benötigen Mitarbeiter bei der Umsetzung der Vision ausreichend Spielraum für Experimente und Innovationen. Dies erfordert Managementmechanismen, die über Kontrolle und Prozessbeschreibungen hinausgehen: klare Ziele, aber auch Freiheit bei der Wahl der Wege zur Zielerreichung.
Abschluss
Eine überzeugende Vision entwirft ein inspirierendes, identitätsstiftendes Zukunftsbild, maßgeschneidert auf das jeweilige Unternehmen. Häufig anzutreffende, austauschbare Floskeln sind wirkungslos oder werden gar mit einem leichten Zynismus betrachtet. Bei der Entwicklung einer Vision sollte man sich von dem Anspruch befreien, einen möglichst breit unterstützten Ansatz zu verfolgen. Andererseits ist die Übernahme umfassender Verantwortung für deren Umsetzung entscheidend für den Erfolg.
Zudem haben Visionen meist eine begrenzte Lebensdauer und müssen überarbeitet werden, da sie entweder eintreten oder aufgrund veränderter äußerer Umstände ihre Bedeutung verlieren. Ein japanisches Sprichwort bringt den Nutzen von Visionen treffend auf den Punkt:
„Visionen ohne Taten sind Tagträume. Taten ohne Visionen sind Albträume.“
Autoren (engl.):
Prof. Dr. Andrea L. Sablone
Dr. Harald Brodbeck
Quelle: Fernfachhochschule Schweiz – FFHS
https://www.ffhs.ch/