Das 4-Phasen-Modell von Graham Wallas
Eines der ersten modernen Modelle menschlicher Kreativität stammt von Graham Wallas, einem englischen Sozialpsychologen und Mitbegründer der London School of Economics.
Dieses Modell geht auf Beobachtungen des Physikers Hermann von Helmholtz (1884) und des Mathematikers Henri Poincaré (1908) zurück. 1926 kombinierte Graham Wallas diese Beobachtungen mit seinen eigenen Forschungen zu einer systematischen Theorie des kreativen Denkens und propagierte folgendes Vier-Phasen-Modell jedes kreativen Prozesses:
Die von Wallas in seinem Buch „The Art of Thought“, 1926 eingeführten 4 Phasen eines kreativen Prozesses (Preparation, Incubation, Illumination, Verification) gelten bis heute als die universellen Phasen, die bei jeder kreativen Denkarbeit und jedem problemlösungsorientierten Denken fast immer in ähnlicher oder analoger Weise auftreten und von vielen kreativen Menschen bestätigt wurden.
Die geistige Arbeit gliedert sich nach Wallas in vier Phasen (1) zunächst wird die Aufgabenstellung formuliert und (divergent) in alle Richtungen untersucht, (2) Ideen und Kombinationen werden im Unterbewusstsein verinnerlicht und unterbewusst ausgebrütet, (3) Illuminationen und plötzliche Einfälle führen dann wie von selbst zu einem Lösungskonzept, das (4) dann in der letzten Phase des Kreativitätsprozesses (konvergent) konzentriert und umgesetzt werden kann.
Wie Sie sehen werden, enthielt Wallas‘ Prozessmodell der Kreativität bereits die Elemente der heute hochaktuellen Design Thinking-Methode. Die Methodik des Design Thinking nach HPI überträgt das Vorgehensmodell von Graham Wallas von der ursprünglich individuellen Ebene auf die Ebenen der kollektiven Team- und Gruppenarbeit.
Die Design Thinking Methode nach IDEO und HPI Hasso-Plattner-Institut
Die Design Thinking Methode, wie sie von IDEO und dem Hasso-Plattner-Institut der Stanford University praktiziert wird, basiert auf ähnlichen Prinzipien und Vorgehensweisen. Beide Ansätze zielen darauf ab, innovative Lösungen für komplexe Probleme zu finden und den Benutzer in den Mittelpunkt des Designprozesses zu stellen. Es gibt jedoch einige Unterschiede zwischen den beiden Methoden:
IDEO gilt als Pionier und Vorreiter des Design Thinking und entwickelte die Methode in den 1990er Jahren.
Das Hasso-Plattner-Institut der Stanford University hat den Design Thinking-Ansatz weiterentwickelt und bietet einen strukturierten Rahmen für seine Anwendung.
Prozessstrukturen
IDEO verwendet einen fünfstufigen Design Thinking-Prozess, der aus den Phasen besteht
Understanding –> Observing –> Generating Ideas –> Prototyping –> Testing
Das Hasso-Plattner-Institut hat einen sechsstufigen Prozess implementiert, der vor der Phase „Verstehen“ die Phase „Empathisieren“ einschließt. Dadurch wird der Fokus stärker auf das Verständnis der Bedürfnisse und Emotionen der Benutzer, der Werkzeuge und Methoden gelegt:
Empathizing–> Understanding –> Observing –> Generating Ideas –> Prototyping –> Testing
Beide Methoden verwenden ähnliche Tools und Methoden, wie Interviews, Beobachtungen, Brainstorming, Prototyping und Tests. Die spezifische Anwendung und Gewichtung der verschiedenen Tools kann jedoch je nach Methode variieren.
Kontext und Umfang
IDEO ist ein globales Design- und Innovationsunternehmen, das Design Thinking in verschiedenen Bereichen anwendet, darunter Produktdesign, Servicedesign, Unternehmensstrategie und soziale Innovation. Das Hasso-Plattner-Institut konzentriert sich hauptsächlich auf die Anwendung von Design Thinking im Kontext von Technologie und IT-Systemen.
Trotz dieser Unterschiede teilen beide Ansätze die Kernidee des Design Thinking, nämlich die Schaffung benutzerzentrierter Lösungen durch einen iterativen und kollaborativen Designprozess. Beide Methoden haben einen starken Einfluss auf die Innovationspraxis und werden weltweit von Unternehmen, Organisationen und Bildungseinrichtungen eingesetzt.
Das 4-Phasen-Modell künstlerischen Arbeitens – der Algorithmus der Kreativität
In der Welt der Kunst und des kreativen Schaffens hat sich seit jeher die Frage gestellt, wie der schöpferische Prozess strukturiert und verstanden werden kann. Ein neues Modell, das auf den grundlegenden Erkenntnissen von Graham Wallas aufbaut und diese weiterentwickelt, bietet nun einen frischen Blick auf den künstlerischen Gestaltungsprozess. Dieses Modell vereint traditionelle Einsichten mit modernen Konzepten der Iteration und des algorithmischen Denkens.
Die Grundlagen: Wallas› vier Phasen
Graham Wallas vierstufiges Modell – bestehend aus Vorbereitung, Inkubation, Illumination und Verifizierung – hat sich als bemerkenswert robust erwiesen und findet bis heute breite Anerkennung in der kreativen Gemeinschaft. Wallas› Modell beschreibt einen Prozess, der mit der gezielten Sammlung von Informationen beginnt (Vorbereitung), gefolgt von einer Phase des unbewussten Verarbeitens (Inkubation). Der entscheidende Moment der Einsicht (Illumination) führt schließlich zur kritischen Überprüfung und Ausarbeitung der Idee (Verifizierung).
Art Thinking: Ein erweitertes Modell für die künstlerische Praxis

Das hier vorgestellte neue Modell «Art Thinking» baut auf Wallas› Grundlagen auf, passt sie jedoch spezifisch an die Bedürfnisse und Realitäten künstlerischen Schaffens an. Es definiert vier Phasen, die den kreativen Prozess von der ersten Idee bis zum fertigen Kunstwerk begleiten.
Die 4 Phasen des Art Thinking
- Vorbereitung: Diese Phase umfasst die Materialsammlung, Planung und alle vorbereitenden Aktivitäten.
- Inkubation: Hier werden Ideen geformt, Visionen entwickelt und Ziele sowie Rahmenbedingungen festgelegt.
- Prototyping: In dieser Phase entstehen erste Entwürfe, Konzeptmodelle werden erstellt und Tests durchgeführt.
- Finalisierung: Die letzte Phase beinhaltet die Ausführung und Fertigstellung des Werkes, wobei der Prozess vom Groben über das Feine bis ins letzte Detail führt.
Die iterative Natur des kreativen Prozesses
Ein entscheidender Aspekt dieses neuen Modells ist seine iterative Struktur. Nach jeder Phase steht ein Entscheidungspunkt, an dem der Künstler evaluiert, ob der bisherige Weg fortgesetzt oder ob zu einer früheren Phase zurückgekehrt werden soll. Diese Entscheidungspunkte, im Modell als «E» dargestellt, ermöglichen eine flexible und adaptive Herangehensweise an den kreativen Prozess. Die Möglichkeit der Iteration ist besonders in den Phasen des Prototyping und der Finalisierung von Bedeutung. Hier können mehrere Durchläufe notwendig sein, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen. Jede Wiederholung führt zu einer Verfeinerung und Intensivierung des entstehenden Werkes
Externe Einflüsse und Rahmenbedingungen
Das Modell berücksichtigt auch die vielfältigen externen Faktoren, die den kreativen Prozess beeinflussen. Dazu gehören:
- Die individuelle persönliche Schaffenskraft des Künstlers
- Projektorganisation, Terminierung und Finanzierung
- Allgemeine künstlerische Gestaltungskriterien
- Techniken, Technologien und Materialien
- Äußere Einflüsse wie Zivilisation und Umwelt
Diese Faktoren spielen eine entscheidende Rolle in der Gestaltung des kreativen Prozesses und können sowohl fördernd als auch hemmend wirken
Die Bedeutung von Wiederholung und Pausen
Ein oft übersehener, aber wesentlicher Aspekt des kreativen Prozesses sind Wiederholungen und Pausen. Das Modell erkennt an, dass viele kreative Entwicklungen auch in Ruhephasen, etwa im Schlaf oder während scheinbar unproduktiver Zeiten, stattfinden. Diese Erkenntnis steht im Einklang mit Wallas› Konzept der Inkubation und unterstreicht die Bedeutung von Zeiträumen, in denen das Unterbewusstsein ungestört arbeiten kann.
Innovation durch Integration
Die Neuartigkeit dieses Modells liegt in seinem ganzheitlichen Ansatz. Es berücksichtigt sowohl interne als auch externe Einflüsse und definiert die einzelnen Phasen neu. Besonders innovativ ist die iterative, algorithmische Verknüpfung der Prozessphasen. Im Gegensatz zu früheren Modellen, die entweder eine unbestimmte «interne Durchmischung» der Phasen oder einen streng linearen Ablauf postulierten, bietet dieses Modell eine flexible, aber strukturierte Sichtweise auf den kreativen Prozess.
Schlussfolgerung
Das vorgestellte 4-Phasen-Modell künstlerischen Arbeitens bietet eine umfassende und zeitgemäße Perspektive auf den kreativen Prozess. Es vereint die bewährten Erkenntnisse von Graham Wallas mit modernen Konzepten der Iteration und des algorithmischen Denkens. Durch die Berücksichtigung externer Einflüsse und die Einbeziehung von Entscheidungspunkten schafft es ein realistisches Bild des künstlerischen Schaffensprozesses. Dieses Modell kann Künstlern, Designern und Kreativen als Orientierungshilfe dienen, um ihren eigenen Schaffensprozess besser zu verstehen und zu strukturieren. Es bietet einen Rahmen, der sowohl die Komplexität als auch die Dynamik kreativer Arbeit anerkennt und dabei flexibel genug bleibt, um individuelle Anpassungen zu ermöglichen. In einer Zeit, in der künstlerisches Schaffen zunehmend mit technologischen Entwicklungen und gesellschaftlichen Veränderungen konfrontiert wird, bietet dieses Modell eine wertvolle Brücke zwischen traditionellen Verständnissen von Kreativität und modernen, algorithmischen Ansätzen. Es lädt dazu ein, den kreativen Prozess als eine Reise zu betrachten, die sowohl strukturiert als auch offen für unerwartete Wendungen und Erkenntnisse ist.
Literatur:
- Graham Wallas: Die Kunst des Denkens (1926)
- Modelle für den kreativen Prozess von Paul E. Plsek (1996)
- www.art-thinking.ch (2021)
© 2023, Innovator’s Guide Switzerland / Eugene Walterson, August 10, 2023